Gestundete zeit

Was kann man in Ingeborg Bachmanns Gedicht unter "gestundeter Zeit" verstehen? // DIE GESTUNDETE ZEIT Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Bald musst du den Schuh schnüren und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. Denn die Eingeweide der Fische sind kalt geworden im Wind. Ärmlich brennt das Licht der Lupinen. Dein Blick spurt im Nebel: die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fällt ihr ins Wort, er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich und willig dem Abschied nach jeder Umarmung. Sieh dich nicht um. Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen! Es kommen härtere Tage.

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Die gestundete Zeit

Ausgeliehen, man hat keinen Anspruch mehr darauf. Der Zusatz "auf Widerruf" verstärkt das noch: das klein wenig Zeit, dass Dir noch bleibt wird / kann Dir sehr bald wieder genommen werden.
Bei Stundung denke ich stets an einen Gläubiger und einen Schuldner. Der Gläubiger muss zurückzahlen, kann aber nicht. Der Schuldner ist kulant und lässt sich Stundung ein, d.h. die Fälligkeit wird hinausgeschoben und die Schuld später beglichen. Es ist nicht leicht, dies auf die Zeit selbst zu beziehen.
Ich denke, dass mit dem "Widerruf" der Tod gemeint ist, also unabhängig von jüngstem Gericht, weil man über die Maßen lang gelebt hat. Weiß Du zufällig, wie lange vor ihrem Selbstmord dieses Gedicht entstanden ist? Vielleicht fällt es in eine Phase, in der sie sich noch irgendwie an das Leben geklammert hat, aber schon das Gefühl hatte - es ist nicht mehr "ihre" Zeit, auch nicht die von jemandem anderen, sondern sie hat "ihre" Zeit, also ihre Habe an Lebenskraft bereits verschenkt, verloren, verlebt und alles was noch kommt ist - geliehene Zeit
Das Gedicht erschient bereits 1953 , also zwanzig Jahre vor ihrem Tod. Ich frage mich: wer ist der Gläubiger und wer der Schuldner
Ich würde jetzt mal vermuten, der Schuldner ist sie selbst als lebender Mensch und der Gläubiger der Tod. Eigentlich fällt mir gar keine andere Interpretation dazu ein. Oder meinst Du das mit dem Gläubiger als "lyrisches Ich" das andere Element in ihr, das sterben will im Verhältnis zu den Elementen in ihr, die so gerne weiterleben wollen?
Ja, Dein Begriff Schicksal gefällt mir gut. - Mit lyrischem Ich bezeichnet man in der Literatur den fiktiven Sprecher bzw. die "Stimme" eines Gedicht, die unterstellte nicht notwendigerweise reale Person, die "ich" sagt. - Stundung impliziert ein Auleihen und Zurückzahlen. Vielleicht ist mit Zeit das Leben oder Sein-Können gemeint. Man leiht sich beim Schicksal die Existenz für die Zeitspanne, die man auf der Welt ist, aus und gibt sie anschließend zurück, dazwischen liegen zuletzt härtere Tage.
Ich denke, Dein letzter Satz bringt es auf den Punkt. Vielleicht noch mit dem Zusatz, dass die härteren Tage in dem Moment anbrechen, in dem man sich der Endlichkeit dieses Arrangements bewusst wird. Aber das müssen nicht zwangsläufig härtere Tage sein, sie können auch golden und glücklich sein, obwohl der Abschied bereits sichtbar ist. Wie soll ich Dir erklären, was ich meine. nimm einen Herbst. Erntezeit. Der Winter steht vor der Türe. Du kannst darüber ein Gedicht schreiben wie ihres, aber auch eines das die Fülle der Ernte und das goldene Licht einfängt. Das Thema ist letztendlich das gleiche. Der Herbst und der Tod.
Kleine Anmerkung zum sog. "Selbstmord": Ingeborg Bachmann ist m.E. an den Folgen einer Verbrennung gestorben, hervorgerufen durch Rauchen einer Zigarette im Bett eines Hotelzimmers.
Ich sehe das nicht ganz so "letal".
Für mich ist mit der "gestundesten Zeit" die glückliche Zeit gemeint, die nur gestundet ist. Denn es heißt ja, dass jetzt die "härteren Tage" kommen. Das lyrische Ich hat eine Liebe verloren, das Glück eben oder/und tritt aus einem glücklichen Lebensabschnitt in einen härteren, kälteren ein.
Dieses Motiv taucht bei ihr ja sehr oft auf. In "Enigma" heißt es "Nicht Dich hab ich verloren, sondern die Welt", da fasst sie es nicht zeitlich, sondern topografisch, wie auch in Malina, wo das verzweifelte "Ich" in der Wand verschwindet.
Sowohl Zeit wie Raum sind bei I.B. immer nur gestundet, denn beides ist nur möglich, wenn Liebe, Respekt und Menschlichkeit den Umgang miteinander bestimmen würden, was nicht der Fall ist.
Auch das wird hier schon thematisiert:
"er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung."
Der weibliche Orpheus wird hier von den männlichen Eurydiken daran gehindert, sie zu retten, denn sie soll nicht singen. Im gleichen Satz die Umkehrung, der weibliche Orpheus verlässt die unwirtliche Unterwelt, in der die Toten zurückbleiben, bricht in sein sterbliches Leben auf, schaut sich nicht um, jagt Hekates Hunde (ein Lieblingsmotiv von I.B. aus Lear entlehnt bis zum "Gebell") zurück und geht einem neuen Leben entgegen.
In der "Gestundeten Zeit" ist sie noch hoffnungsvoll. Hier scheint noch ein Glück möglich zu sein, auch wenn es als "härtere Tage" beschrieben wird. In "Todesarten" hat sie diese positive Weltsicht, des im Aufbruch seins, aufgegeben. Dort geht es nur noch bergab.
Das - gerne morgen mehr!
ate
Sehr emotionales Gedicht,
jedoch wage ich nicht zu antworten,
kann deinen Anforderungen nicht
gerecht werden.
Es berührt jedoch zutiefst.
Ein Appell vielleicht den Schmerz
nie zu ernst zu nehmen, denn er
geht vorbei, wird vielleicht vergessen
oder noch größer.
Wer war doch gleich Ingeborg Bachmann?
Muss grad mal googeln.

Was für rhetorische Stilmittel gibt es im Gedicht "Die gestundete Zeit"?

Das Gedicht braucht man dafür vielleicht auch
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich - Wiederholung/Anapher
Schnür deinen Schuh - Alliteration
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand - Metapher
Die gestundete Zeit
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willigt dem Abschied
nach jeder Umarmung.
Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.

Welches Metrum hat das Gedicht "Die gestundete Zeit" von Ingeborg Bachman?

Wie viele Gedichte der Zeit nach 1945 hat der Text weder ein spezielles Reimschema noch ein festes, durchgehendes Metrum. Die Verszeilen sind sehr gemischt aus Jamben und Doppelsteigern : "Es kóm-men hár-te- re Tá -ge"(2 Jamben, 1 Anapäst mit überzähliger Senkung. Aber: "Árm-lich brénnt das Lícht der Lu-pi-nen" ist natürlich anders: ein 3 Faller 1 Doppelsteiger mit überzähliger Senkung. Ergo: Es sollte in deiner Analyse reichen, wenn du einfach sagst: Ein festes Metrum/ Versmaß liegt nicht vor. Alle bekannten Versmaße werden in Mischformen verwendet bzw. variiert.
Was würdest du sagen warum ist das so, also ich mein was will der Autor damit sagen. Eine gewisse Unentschlossenheit?
Auf keinen Fall. Mit Unentschlossenheit in Hinblick auf die Wahl der formalen Mittel hat das gar nichts zu tun. Eher möchte ich meinen, dass man auch in der Literatur traditionelle Vorgaben ablegt, weil man sie als Fesseln empfindet. Reim und festliegendes Versmaß scheinen dann nicht mehr tragfähig oder förderlich für die inhaltliche Botschaft des Gedichts.
Das ist eigentlich gar kein Gedischt im eigentlichen Sinn, weil es sich nicht reimt. A priori ist die Frage nach dem Betonungsschema damit eigentlich sinnlos.
Aber ich versuche es mal mit ' als Betonungszeichen der folgenden Silbe:
Es kommen 'härtere Tage.
Die auf 'Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am 'Horizont.
Bald mußt du den Schuh 'schnüren
und die Hunde zu'rückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
'Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spürt im Nebel:
die auf 'Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am 'Horizont.
Wie gesagt: Kein klassisches Gedicht.
Aber eine tolle Essenz einer großen Geschichte